tagedieb
Die Abschlussarbeit tagedieb von Judith und Jana ist die Entwicklung und Realisierung eines Kommunikationskonzeptes zum Thema Muße. Sie entstand an der Hochschule Niederrhein im Fachbereich Kommunikationsdesign. Unter der Leitidee »Nimm dir die Zeit« entwickelten die beiden eine Reihe von Guerilla-Aktionen und Plakaten, die als Denkanstöße und Alltags-Entschleuniger dienen.
– Ein Taugenichts oder ein Tunichtgut? Nein, viel mehr ein Lebenskünstler, ein Müßiggänger. Er lebt nach seinen eigenen Regeln, seinem eigenen Rhythmus. Ein Tagedieb nimmt sich die Zeit, die er braucht …
Er könnte twittern, bloggen, chatten, meeten, fernsehen, skypen und sich bei Facebook aufhalten. Wenn er denn wollte. Viel lieber trotzt er aber der Reizüberflutung und hat keine Angst sich auch einmal der Stille auszusetzen, sich im Nichtstun zu verlieren und einfach mal die Klappe zu halten. Dann ist er nicht gehetzt, getrieben, angespannt oder gestresst, sondern entspannt, ruhig und zufrieden. Ein Tagedieb ist glücklich.
Doch für viele ist es schwer ein Tagedieb zu sein. Die rasante Beschleunigung unseres Lebens in der heutigen Gesellschaft reißt uns mit sich. Alles muss sofort geschehen. Mal eben jemanden anrufen, schnell noch eine eMail versenden, kurz noch die Schule in acht Jahren und das Studium in drei Jahren beenden.
Der technische Fortschritt ist zwar ein Segen, hat aber auch seine Schattenseiten. Die tägliche Informationsflut, die über uns hereinbricht und die wir zu bewältigen versuchen, überfordert uns immer mehr. Auf allen Kanälen werden Nachrichten verschickt, angenommen und verbreitet. Und das auch noch alles gleichzeitig. Man will ja nichts verpassen. Multitaskingfähigkeit, sagt da mancher stolz und klagt im nächsten Satz über Schlaflosigkeit und Magenprobleme. Andere reden lieber nicht darüber und lassen sich wegen eines Burn-Outs therapieren.
Judith und Jana haben uns ein paar Fragen zu ihrer Arbeit beantwortet:
Mit eurem Projekt tagedieb wollt ihr zu mehr Entschleunigung aufrufen. In diesem Rahmen habt ihr Ohrenschützer an einen Baum im Krefelder Stadtpark gehängt, mit denen Passanten absolute Stille erfahren konnten. – Welche weiteren Aktionen habt ihr auf die Beine gestellt?
Wir haben zum Beispiel Fahrstühle bespielt, in denen wir kleine Schilder neben den durchnummerierten Etagenknöpfen anbrachten, um so die Gedanken der Fahrgäste von ihrem Alltagsstress abzulenken. Besonders Aufzüge sind Räume der Hektik. Man hält sich in ihnen auf, um schnell von A nach B zu gelangen, und ist oft ungeduldig und gehetzt, dabei kann man sie nutzen um kurz abzuschalten; denn außer warten und sich fahren lassen, muss man nichts tun.
Eine weitere Aktion war eine Installation von vier Schaukelstühlen am Krefelder Bahnhof. Gerade das Schaukeln ist eine besonders schöne Form der Muße. Es ist eine Tätigkeit, die man nur um ihrer selbst Willen tut. Es gilt als wissenschaftlich erwiesen, dass beim Schaukeln der Botenstoff Serotonin ausgesetzt wird, ein Glückshormon, dass Gelassenheit, Ruhe und Zufriedenheit gibt und somit ein Gegenspieler von Stress und Hektik ist. Es war interessant zu sehen, wie die Schaukelstühle an diesem schnelllebigen Ort Aufmerksamkeit bei den Passanten erregten und deren Situation des Wartens veränderten.
Um in Krefeld auf Orte aufmerksam zu machen, an denen man Ruhe und Müßiggang erleben kann, haben wir uns eine Markierung überlegt, den Muße-Pfeil. Man findet ihn auf dem Boden, er zeigt auf Orte wie Museen, Kirchen, Galerien, kleine Cafés, Buchhandlungen oder Bibliotheken – eben Orte, an denen man sich Zeit nimmt und die man um ihrer selbst Willen besucht.
Ein Schattenspiel, das wir in der Nähe unserer Uni an einer Laterne anbrachten, fordert dazu auf, auf den richtigen Sonnenstand zu warten. Zwei Plexiglasscheiben wurden je mit einem nicht lesbaren Teil unseres tagedieb-Logos beschriftet und parallel zueinander angebracht. Nur einmal am Tag steht die Sonne so, dass der Schattenwurf das Wort wieder zusammensetzt und sich »tagedieb« als Schatten an der Wand ergibt. Diese Aktion fordert ein besonders hohes Maß der Muße, man muss sich also sehr viel Zeit nehmen, um die Botschaft zu entschlüsseln, oder zufällig zur richtigen Zeit vorbei gehen.
Wie liefen diese Aktionen im öffentlichen Raum ab? War immer jemand von euch anwesend?
Zunächst einmal haben wir versucht, uns nach dem Aufbau der jeweiligen Aktion etwas zu entfernen, damit die Installationen für sich stehen können. Wir wollten die Passanten bewusst mit der ungewohnten Situation alleine lassen. Sie sollen schließlich als Denkanstoß dienen, also zum selber denken anregen. Deshalb gab es ja auch nicht mehr Informationen, als das Logo des tagedieb selbst, das wie ein Absender funktioniert.
Konnten die Passanten Fragen stellen, oder habt ihr euch versteckt? Wie waren die Reaktionen?
Da wir die Aktionen ja auch dokumentieren wollten, haben wir Fotos gemacht und waren somit immer in der Nähe der Aktionsplätze. Das erregt natürlich zusätzlich Aufmerksamkeit. Nach anfänglichen skeptischen und fragenden Blicken, haben sich nach und nach einige Menschen getraut, uns anzusprechen. Wer sich so sehr interessiert, dass er sich überwindet und uns anspricht, der kriegt natürlich auch eine Antwort und Erklärungen. Sicher – es gibt immer den ein oder anderen, der selbst beim besten Willen kein Verständnis für so etwas aufbringen kann, aber die meisten Leute waren sehr begeistert und konnten sich mit unserem Projekt identifizieren.
Neben diesen Aktionen sind auch Plakate entstanden: durch (sehr zeitintensiven) Linoldruck auf Zeitungspapier. Welche Motive bzw. Texte habt ihr für die Drucke ausgewählt?
Die Motive der Plakatserie entstanden aus grundlegenden, eigenen, Gedanken zu unserem Thema und den Ergebnissen unserer Recherche-Arbeit. Es war uns wichtig, plakativ und mit einfachen Formen zu gestalten, um Neugierde zu wecken. Um einen Kontrast zwischen unserer Gestaltung und der täglichen Reizüberflutung an Informationen zu erzeugen, druckten wir auf Börsenteile der FAZ und der Rheinischen Post. Eine zeitversetzte Anbringung der Plakate, um die Informationen nach und nach aufzubauen, macht das Ganze zusätzlich spannend.
Sehr eindeutig funktioniert hier das Uhren-Motiv. Zunächst sieht man die Uhr als Ganzes, nach und nach fehlen Teile, sodass das Motiv am Ende nicht mehr direkt als Uhr erkennbar und das Ablesen einer Uhrzeit unmöglich ist. Die Botschaft ist einfach: Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.
Ebenfalls unmissverständlich ist das Plakatmotiv »mehr muße«. Die typografische Gestaltung wirkt ehrlich und beruhigend durch ihre Einfachheit. Der zeitlich versetzte Aufbau des gesamten Plakates wird hier besonders deutlich, da man versucht, zu entschlüsseln, welche Worte gemeint sind.
Das Plakatmotiv »einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig« spielt auf die wertvollen drei Sekunden an. Studien zufolge hat das menschliche Gehirn ein Aufmerksamkeitsfenster von drei Sekunden, danach sucht es sich einen anderen Reiz. Das heißt, alles was dich auf der Straße, oder wo auch immer du gerade bist, anspricht oder einfängt, hat es geschafft, dein drei Sekunden Aufmerksamkeitsfenster zu durchbrechen; alles andere nimmst du nicht ernsthaft war und gehst dran vorbei. Auch beim Sprechen sind kleine Pausen, eben von drei Sekunden, notwendig, um seine Gedanken zu sortieren, um durchzuatmen, oder um den Zuhörer das Gesagte verarbeiten und verstehen zu lassen. Wer ohne Punkt und Komma redet, hetzt sich und damit auch andere unnötig ab.
Doch der Interpetationsspielraum zu dieser Plakatreihe ist groß, sodass Assoziationen mit z.B. dem Zählen der Sekunden von Blitz bis Donner oder Gedanken ans Versteckenspielen möglich sind.
Etwas abstrakter, aber dennoch interessant, ist das Motiv der Typo-Segmente. Hier gehen wir auf das Phänomen ein, dass sich das menschliche Gehirn nicht mehr als sieben Informationen pro Satz merken kann. Viele Plakatwände in der Öffentlichkeit überfordern durch eine immense Informationsflut. Unsere Plakate zeigen den Gegensatz von »viel/zu viel/Masse« und »wenig/sortiert«.
Alle Erklärungen und Gedanken zu weiteren Plakatmotiven und Aktionen findet ihr unter www.tagedieb-krefeld.de
Jana Davids, [email protected]
Judith Cleve, [email protected]