Webinale
Ich habe das Experiment gewagt und bin als "normaler" Web-User bei der Webinale (25.-27.5.) in Berlin gewesen. Ein Experiment, weil ich über Web-Gestaltung wie Programmierung fast nichts weiß und befürchtete, dass derartig mit Fachbegriffen jongliert werden könnte, dass ich nichts verstehen würde. Aber weit gefehlt! Das Programm war extrem breitgefächert, meine Sorge unnötig. Ich war sehr beeindruckt.
Sehr bezeichnend für das technik-orientierte Publikum der Webinale folgende Szene: Ich überlegte in einer Pause, welche Vorträge ich anschauen will, denn es waren oft 6 Vorträge parallel, und kritzelte in meinem Programmheft herum. Da kommt einer und fragt, ob er ein Foto machen kann, denn er will zeigen, dass es das auch noch gibt. Dass jemand mit Stift und Papier seinen persönlichen Zeitplan erstellt. Denn ein iPhone-Programm würde diese Zeitplanung übernehmen, kann man downloaden auf www.webinale.de. Ob ich denn kein iPhone hätte? (Natürlich nicht, sonst hätte ich ja dieses Programm benutzt!)
Über die Vorträge.
Ist die soziale Masse schlauer als der Einzelne? Hier ging es um die soziale Plattform von adidas für Ideenmanagement, vorgestellt von Michael Durst. Diese Plattform geht mit den Ideen der Mitarbeiter um wie amazon mit Büchern. Früher gab es einen Zettelkasten, heute kann man seine Ideen online stellen, kann die Ideen kommentieren und bewerten, es gibt Top-Ideen und Meinungsführer, also: "diese Person fand diese Idee gut, du könntest sie auch gut finden".
Der Künstler Fons Schiedon stellte seine Arbeiten vor, was mich persönlich sehr inspirierte. Er hat z.B. seine kleine Figur "Jesus" geschaffen, eine Figur, die in unterschiedlichen Deformationsgraden auftaucht und in absurde, gefährliche oder auch liebevolle Situationen geworfen wird, mal mehr mal weniger abstrakt, mal als klassische Malerei oder auch als animierter Film. www.fonsschiedon.com
Karlheinz (oder wie er selber besser findet: Charly) Toni kam mit der überraschenden These, dass das Internet bald tot sein wird. Er hatte dafür eine mathematische Berechnung auf Lager. Stellen wir uns vor, wir haben ein Bakterium und eine Flasche. Das Bakterium kommt 11 Uhr in die Flasche und verdoppelt seine Anzahl minütlich. Wenn die Flasche voll ist, ist für das Bakterium der Weltuntergang erreicht. Wann geht die Welt unter (ist die Flasche voll)? Nach 1 Stunde. Wann ist die Flasche halbvoll? Eine Minute vorher. Und 5 vor 12 ist die Flasche noch zu 97 % leer und die Bakterien denken, sie haben unendliche Möglichkeiten. Verstanden? Nicht so schlimm, die These ist leicht freakig und unwahrscheinlich.
Schön war der Vergleich von Kevin Slavin: das Internet und sein User funktioniere wie ein Teebeutel. Der Teebeutel wird in heißes Wasser gehängt, der User geht online. Der Teebeutel gibt sein Aroma preis, der User Informationen. Es entsteht eine Beziehung, ein Dialog.
Nina Nauth von der Filmproduktion bigfish hat über virales Marketing gesprochen und viele YouTube-Filme gezeigt. (Virals sind Werbefilmchen, die sich selbst über das Internet verbreiten, weil der Zuschauer sich fragt, ob das echt ist oder fake). Beispiele: http://www.youtube.com/watch?v=8HUmrDa5PPE, http://www.youtube.com/watch?v=45w_5l5e-lI, http://www.youtube.com/watch?v=lsJc2iSnw00
Äußerst seriös war die Gesprächsrunde "Politik in und mit Neuen Medien". Thema war natürlich die Wahl von Obama und die bevorstehende Wahl in Deutschland. Beispiel für deutsche Aktivitäten war das Twittern von Thorsten Schäfer-Gümbel in Hessen vor seiner Wahl.
Wichtigste Erkenntnis: Der Politiker muss eine Message haben, siehe Obama, er muss auf einer Mission sein, die Menschen mitreißen, dann funktionieren auch die Neuen Medien. In Deutschland beschränkt es sich bisher eher auf Alltagsaktivitäten, einfach weil der Leidensdruck noch nicht groß genug ist, so die Runde um Volker Grassmuck.
Links, die genannt wurden: www.zeichnemit.de (online-Petitionen), www.fixmystreet.com (öffentliches Portal in England, in dem es um die Lösung konkreter lokalpolitischer Themen geht), www.netzpolitik.org, www.newthinking.de, www.berlinblase.com
Gerald Heydenreich von www.buyvip.com stellte das Konzept von buyvip kurz vor und erntete einen Sturm von Fragen, ganz konkrete Fragen, z.B. wieviele Registrierte sind tatsächliche Käufer (ca. 25%), wieviele Produkte gehören zu einer Kampagne (minimum 5000), wie teuer (Rabatte bis zu 70%), welche Marken (adidas, nike, gucci sonnenbrillen), gibt es ein Lager (nein), wie wird bezahlt (ausschließlich mit Kreditkarte und PayPal) usw. Das lag wahrscheinlich daran, dass das Konzept unglaublich gut funktioniert und in diesem Markt noch eine Menge Potential steckt.
Jens Franke von der Hochschule in Hildesheim vertrat die These, dass der Computer in Zukunft andere Formen annehmen muss. Multitouch, tangible Interfaces, gestural interfaces, organic interfaces (der Designer moduliert 3D-Objekte nicht mehr über Werkzeugpaletten sondern formt tatsächlich mit seinen Händen, der Typograf bestimmt die Spationierung haptisch, etc.).
Für mich einen wunderbaren Abschluß bildete der Vortrag "Online vs. Print" von Alexander Görlach, der Online-Chef des Magazins Cicero. Die gedruckte tägliche Nachricht verliert an Bedeutung, denn die Echtzeit-Berichterstattung im Netz übernimmt dieses Feld. Die Printmedien können nur überleben, wenn sie einen Zusatznutzen anbieten, also die Deutung einer Nachricht. Neon gewann an Auflage, die Zeit, Cicero, brandeins.
In der Onlinepräsenz können die Deutschen noch einiges von den USA lernen. Dort sind wirklich eigenständige Onlineformate zu finden, in Deutschlan eher "fader Einheitsbrei mit Printanbindung". Man muss sich nur mal www.welt.de, www.sueddeutsche.de, www.spiegel.de im Vergleich zu www.huffingtonpost.com, www.slate.com, www.nytimes.com, www.propublica.org anschauen.
Alle, die auch auf der Webinale waren, sollten unbedingt Kommentare schreiben zu den vielen Vorträgen, die ich nicht sehen konnte. Würde mich freuen!